Val Müstair

DAS TRAIL-HEILIGTUM DER OST-SCHWEIZ

Für Alpenüberquerer ist das Val Müstair schon lange ein Begriff. Für Liebhaber einsamster, hochalpiner Singletrails ist das östlichste Tal Graubündens immer noch ein echter Geheimtipp. Wir haben ein paar Tage dort verbracht und uns von den Locals die besten Touren zeigen lassen – Trail-Träume mitten im Schweizer Nationalpark im Angesicht von König Ortler.

Text und Fotos: Markus Greber | Veröffentlicht: 18.12.2024

 

Monica Canclini-Hedinger dachte, sie hätte schon alles gesehen. Seit 40 Jahren betreibt sie das Hotel Crusch Alba – ein Familienbetrieb in achter Generation, mitten in Santa Maria im Herzen des Val Müstairs. Zu ihren Gästen zählen seither natürlich  Mountainbiker. Zunehmend Alpenüberquerer, die auf ihrem Weg Richtung Süden nach Zimmern und einer warmen Zahlzeit fragen. Doch im vergangenen Sommer sei abends um zehn Uhr eine Gruppe Biker an ihrer Rezeption aufgeschlagen, da habe sie ihren Augen und Ohren nicht getraut. Sieben Männer, allesamt klatschnass, entkräftet und offensichtlich unterkühlt. „Einer davon hat mit dünner Stimme und holländischem Akzent nach einer Bleibe gefragt, dabei hätten sie meiner Meinung nach eher in die Notaufnahme gehört. Aber am nächsten Morgen wollten tatsächlich alle weiter nach Italien.“

Monica tippt mit dem linken Zeigefinger an die Stirn, während sie uns mit der anderen Hand ihren Hausschnaps einschenkt. „Die spinnen, die Biker.“ Das kleine Schweizer Tal Val Müstair liegt strategisch günstig für Alpenüberquerer zwischen Ortler und Ofenpass. Perfekt für ein Etappenende. „Die kommen meist von der Heidelberger Hütte ins Engadin und dann über S-charl und den Pass da Costainas zu uns ins Val Müstair“, erzählt Monica. „Aber dann wollen sie auf ihrem Weg zum Gardasee möglichst schnell weiter“, fügt die Wirtin nach einer kleinen Pause bedauernd hinzu. Was die Alpenüberquerer nicht wissen, wir in unseren kommenden drei Tagen Aufenthalt aber herausfinden werden: Dieses Tal beherbergt die wahrscheinlich besten Trails, schönsten Bergseen und imposantesten Panoramen der Ostalpen.

Ein Ort mit viel Durchgangsverkehr war der östlichste Zipfel der Schweiz schon seit dem Mittelalter. Damals bevölkerten Säumer das Tal. Das Crusch Alba wurde 1540 als Herberge für die Händler gebaut. Dann kamen die Schmuggler. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts wurden Zigaretten, Kaffee und Schmuck durch das Tal Richtung Italien geschleust. So wurde damals schon der Grundstein für dieses weit verzweigte, berggrat- und länderübergreifende Pfadnetz gelegt. Und in diesem historischen Geflecht haben wir uns drei große Runden zusammengestellt. Eine Auswahl mit Supertrail-Potenzial, wie uns auch die ortsansässigen Biker vorab bestätigten.

Räumlich nur einen Steinwurf vom Bike-Hotspot Vinschgau und zwei Bergriegel von der Bikepark-Hochburg Livigno entfernt, fühlen wir uns hier in einer völlig anderen Welt. „Entspannte Naturidylle“ – könnte die Überschrift fürs Val Müstair treffend lauten. Zur Einstimmung haben wir heute die lange Runde über den Ofenpass genommen. Also hoch zum Passo Gallo und anschließend durch das wildromantische Val Mora wieder nach Santa Maria zurück. Das entspricht zum Großteil der Route, die auch Alpenüberquerer erleben, wenn sie übers Val Müstair nach Süden weitertingeln. Für morgen aber steht ein hochalpines Abenteuer auf dem Programm: der Piz Chavalatsch. 2763 Meter hoch ragt dieser Gipfel aus dem Berggrat, der das Val Müstair vom Vinschgau trennt. Selbst in Vinschger Biker-Kreisen ist dieser Berg bisher ein weitgehend unbeschriebenes Blatt, obwohl er über einen der größten Touren-Klassiker der Alpen wacht, den Goldseeweg. Der Grund: Der Piz Chavalatsch ist für den normalen Biker zu unbequem. Mindestens die letzten 500 Höhenmeter bis zum Gipfelkreuz hinauf gelten als nicht fahrbar. Oben sollen sehr technische und ausgesetzte Passagen das Abfahren erschweren. Die Gretchenfrage für uns ist also: Bedeutet „nicht fahrbar“ schieben oder tragen? Letzteres wäre fatal und das klare K.-o.-Kriterium für eine E-MTB-Tour. Wir werden es herausfinden.

Im Postauto, also dem öffentlichen Nahverkehr, fliegen wir förmlich die einsamen Kehren aus dem Val Müstair über den Umbrailpass zum Stilfserjoch hinauf. Oben am Stelvio brummt die Rushhour. Lärmende Motorräder, Shuttle-Busse aus dem Vinschgau – schon um acht Uhr früh ist hier oben die Hölle los. Also schnell die letzten steilen Schotterkehren zur Dreisprachenspitze hoch, und das nicht nur, um dem Trubel zu entkommen.

Bis neun Uhr, so die Regel, müssen Biker den Einstieg in den Goldseeweg passiert haben. Danach ist der Trail für Wanderer reserviert. Entsprechend dicht ist die Karawane auf dem Trail. Allerdings nur bis zum empfohlenen Bimbam-Abzweig ins Tal hinunter. Wir aber bleiben auf dem Goldseeweg und nehmen die gefürchtete, verblockte Rüttelpiste zur Furkelhütte hinunter in Kauf. Dafür treffen wir im gesamten weiteren Verlauf der Tour auf keinen anderen Menschen mehr, denn kurz nach der Hütte folgen wir dem Abzweig zum Piz Chavalatsch. Der Schotterweg mutiert schnell zum schmalen Bergpfad. Steil und technisch quert er die Flanken des Piz Chavalatsch. Volle Konzentration ist hier gefragt und ein gutes Balancegefühl, während der Puls im Hals hämmert. Es gibt einige Schlüsselstellen zu meistern, dazwischen aber immer wieder gut fahrbare Sektionen. Tragen müssen wir auch, aber nur über das ein oder andere Gatter.

Fahrtechnikspezialist Maxi hat am Ende gefühlt 95 Prozent des Anstiegs im Sattel gemeistert und resümiert: „Perfekter E-MTB-Uphill. So muss es sein.“ Spektakulär ist auch das Panorama vom Berggrat aus. Fast auf Augenhöhe gratuliert König Ortler zum Aufstieg, gen Norden schweift der Blick über den Reschensee, und im Süden blitzt der Piz Bernina auf. Tief unten die unendlichen Apfelplantagen des Vinschgaus auf der einen Seite und die Öko-Landwirtschaft auf der anderen, der Val Müstairer Seite.

„800 Höhenmeter hart an der Fahrbarkeitsgrenze.
Der Piz Chavalatsch hat micht ganz schön gefordert –
aber ich habe fast alles im Sattel geschafft“

Maxi Dickerhoff

Und da wollen wir jetzt wieder hin. Die Abfahrt über die Rifairscharte hat es in sich. Auf einen hochalpinen Gratweg folgt ein Abzweig nach links. Fast in Fall-Linie stürzt sich der Pfad das Val Müstair hinunter. 1600 Tiefenmeter, die man bis zur Rifairalm zu keiner Zeit aus den Augen lassen darf, nicht mal im anschließend etwas softeren Waldabschnitt. So schaffen wir es gerade rechtzeitig zu einer riesigen Portion Älpler Makkaroni, die Monica uns im historischen „Fürstenzimmer“ ihres Hotels kredenzt.

Unsere dritte Tour wird sich morgen mit den Südhängen des Val Müstairs beschäftigen. Diese Trails tragen die Handschrift der Münstertaler Locals um Nicci Tschenett, die sich der Pflege der taleigenen Trails verschrieben haben. Nicci selbst kann zwar leider nicht mitkommen, aber sie hat uns über Monica einen GPS-Track zukommen lassen. „Mit Euren E-MTBs schafft ihr nicht nur das Valbella, sondern auch noch den zusätzlichen Loop rund um den Munt da la Bescha“, zitiert Monica aus Niccis Mail und reißt dabei alarmiert die Augen auf. Doch so viel können wir verraten: Auch für uns endete die Tour nicht in der Notaufnahme.

DIE SUPERTRAILS IN DIESEM REVIER


 

Val Müstair – Piz Chavalatsch


Wer glaubt, der Goldseeweg sei das größte Abenteuer im Vinschgau und der Ortlerregion, der war noch nicht auf dem Piz Chavalatsch. Für diesen 2763 Meter hohen Riesen...
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24,7 km

04:22 h

↑ 917 hm
↓ 2.415 tm

0 hm

2.856 m

1.218 m

Val Müstair – Val Mora Runde


Auch wenn das weite, einsame Hochtal Namensgeber der Tour ist – das Val Mora ist nur eins von vielen Highlights, die es auf dieser Hochgebirgsrunde zu erleben gibt. Auch die Hochebene ...
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57,90 km

06:40 h

↑ 1.635 hm
↓ 1.634 tm

900 hm

2.278 m

1.258 m

Val Müstair – Valbella Acht


Wer beim Namen Valbella an blühende Almlandschaften denkt, liegt hier falsch. Die Schlucht fasziniert mit schroffen Felsen, fast ohne Vegetation und erinnert eher an Mordor aus Herr der Ringe ...
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39,1 km

05:42 h

↑ 1.345 hm
↓ 1.350 tm

600 hm

2.534 m

1.341 m

Val Müstair – Piz Umbrail


Keinen Kilometer Luftlinie vom Stilfserjoch entfernt, aber einige Straßenkehren und 250 Meter tiefer, liegt der Umbrailpass. Der höchste Straßenpass der Schweiz. Darüber wartet der 3.033 Meter hohe Piz Umbrail mit einem der epischsten Trails der Alpen ...
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27 km

04:29 h

↑ 1.652 hm
↓ 1.654 tm

1.150 hm

3.028 m

1.374 m

TIPPS & INFOS


 

Das Revier

Das Val Müstair (Münstertal) markiert den östlichsten Punkt der Schweiz (Kanton Graubünden) und direkt an den Vinschgau in Südtirol. Grenzlinie ist der 2763 Meter hohe Piz Chavalatsch. Vom Rest der Schweiz ist das Val Müstair durch hohe Berge und den Ofenpass abgetrennt. Das erklärt die spezielle Mentalität und Eigenständigkeit der Münstertaler. Untereinander spricht man Rätoromanisch. Das Tal besteht aus sechs Gemeinden, der Hauptort ist Santa Maria.

Trailsharing

Um die Koexistent mit Wanderern ohne Verbote zu erleichtern, setzt man hier wie überall in Graubünden auf ein freundliches Miteinander auf den. Zudem gibt es für besonders ausgesetzte und somit gefährlichere Routen die sogenannte Vorrangregelung. An manchen Tagen und zu bestimmten Uhrzeiten ist der jeweilige Weg den Wanderern vorbehalten. Das gilt seit Neuestem zum Beispiel für die Gipfel-Tour Umbrail-Val Vau-Val Chava. Mittwochs, donnerstags und samstags haben Wanderer hier Vorrang. An den restlichen Tagen gilt freundliches Trailsharing.

Sehenswürdigkeiten

Sehenswert ist das Frauenkloster Sankt Johann in Müstair. Neun Schwestern leben in dem Unesco Weltkulturerbe, Schwester Birgitta ist sogar Bikerin. Bei Wind und Wetter erledigt sie alles mit ihrem Stevens-E-Bike. Wer das Glück hat, sie zu treffen, kann sich spannende Geschichten anhören. Zum Beispiel ist Birgitta davon überzeugt, dass man sein Bike im Val Müstair nicht abzusperren brauche, denn: Die armen Seelen passen drauf auf. Interessant ist ein Besuch im Klostermuseum. Es zeigt Klostergeschichte aus zwölf Jahrhunderten.

Nachtleben

Das Nachtleben im Val Müstair hält sich in Grenzen. Wer abends um die Häuser ziehen will, für den gibt es ehrlicherweise nur eine Adresse: die kleinste Whisky Bar der Welt in Santa Maria. Lord Gunter Sommer lagert hier 300 erlesene Sorten und unterhält sogar ein kleines Museum. Wenn die Gäste passen, wird es nicht selten weit nach Mitternacht.

Bikeshop und -Touren

Bike-Schule, geführte Touren, Reparaturen – für alles rund ums Biken wendet man sich am besten an die Trail-Schule Ride La Val. Nicole Tschenett und Crew helfen gerne weiter. Reparaturen macht der angegliederte Bikeshop The Bike Patcher in Müstair.

Tradition: Postauto

Für Biker hat der öffentliche Busverkehr nur Vorteile: Erstens muss man nicht extra einen Shuttle buchen, weil die Busse im Sommer immer mit Anhänger für Bikes ausgestattet sind. Zweitens fährt man mit Gästekarte umsonst und das Bike zum halben Preis.

Unterkünfte

Wer stilecht wohnen will, steigt im Hotel Crusch Alba in Santa Maria ab. Urgemütlich und traditionell eingerichtet, aber dennoch mit top-modernem Wellness-Bereich. Monica schmeißt den Laden zusammen mit Tochter Caroline, die abends leckere Spezialitäten aus regionalen Zutaten serviert. Besonderer Tipp: die Älpler Makkaroni aus Nudeln, Kartoffeln und gutem Almkäse.
Empfehlenswert und ebenfalls biker-freundlich: Wellness-Hotel Liun, Hotel Al Rom in Tschierv und das Hotel Helvetia in Müstair.
Günstig kommt man im Alpina B&B, im Hotel Chavalatsch, im Hotel Hirschen und in der Villa Stelvio B&B unter.
Camper finden im Camping Muglin in Müstair (Gratis-Sauna im Heuschober) und auf dem Platz Pè da Munt in Santa Maria (im Lärchenwald) tolle Stellplätze.
Alle bike-freundlichen Unterkünfte unter engadin.com